In der Royal Caledonian School versorgte die Highland Society of London schottische Waisen. Erst in Copenhagen Fields in London, spaeter in Bushey. Und so bekam die Strasse ihren Namen. 2,5 Kilometer lang, in Islington. Eine Strasse, die Stadtteile verbindet. Viele Laeden, Haeuser, council estates, kleine Betriebe, pubs, eine tube station, eine Tankstelle, food places, Cafes, ein Gefaengnis sogar. Eine railway line ueber der Strasse, eine darunter und ein Kanal. Eine ganz normale Londoner Strasse. Eine typische Londoner Strasse vielleicht. Nicht in Knightsbridge oder in Mayfair. Das hat nichts mit London zu tun.

The Caledonian Road. The Cally.
Auf der Caledonian Road hatte ich meinen ersten Job in London. Nicht genau auf der Caledonian Road, sondern in einer Nebenstrasse, aber nur zwanzig Meter entfernt um die Ecke. Ein altes Gebaeude, Handwerk, um die Jahrhundertwende gebaut, wunderschoen, heute schoen, frueher sahen die Arbeiter das anders, irgendwann umfunktioniert zu Bueros. Ich fuhr mit der Tube, der erste und einzige Mal, dass ich die Tube zur Caledonian Road nahm, bewarb mich, und anscheinend dachte man, ich sei fuer den Job geeignet. Knapp zwei Jahre habe ich dort gearbeitet. Kein schlechter Job, kein allzu guter. Gut genug allemal.
Ich kenne die Gegend. Wenn man irgendwo arbeitet und regelmaessig Zeit verbringt, lernt man kennen. Und dann fallen einem die Kleinigkeiten auf. Die Kleinigkeiten sind wichtig. Wenn im newspaper shop um die Ecke hinter der Kasse neue Leute arbeiten. Wenn der chicken takeway weiter unten zumacht, nur um ein paar Wochen spaeter wieder zu oeffnen als sei nichts geschehen. Wenn die Kassierinnen im Supermarkt tagaus, tagein dieselben regulars bedienen. Wenn ein paar locals, die man immer wieder sieht, auf einmal fuer ein paar Wochen nicht an der Ecke rumhaengen. Und dann doch wieder da sind, wo sie hingehoeren. Wenn ueber Nacht neue graffitis auftauchen. Wenn die pensioners morgens ihre Zeitung holen. Wenn die Vorgaerten der Haeuser sich kaum aendern.

Die Strasse praegt die Menschen und die Menschen praegen die Strassen. Auf der Caledonian Road leben Menschen, arbeiten Menschen.
Abends wartete ich an der train station auf den Zug, um nach Hause zu fahren. Caledonian Road and Barnsbury. Heute gehoert die Station zu London Overground, damals hiess es Silverline.

Bekannt und beruechtigt. Die Zuege kamen haeufig zu spaet und waren ueberfuellt. Und wenn ich nach der Arbeit auf dem windigen Bahnsteig stand, sassen nicht weit entfernt die Gefangenen in Pentonville prison ganz oben an den Fenstern und riefen ihren Kumpels oder Angehoerigen unten auf der Strasse Nachrichten zu.

Und dann stieg ich in die alten Zuege ein und liess mich nach Hause fahren, eng an eng mit anderen Reisenden. Wie so oft in London wird eine Naehe geschaffen, die keiner mag. Und die alten Zuegen ratterten durch den Norden der Stadt. Und wieder werden Stadtteile verbunden, die nicht wirklich zueinander gehoern, die nichts miteinander zu tun haben wollen. Manchmal wurde es jemandem zuviel, dann entlud sich die Anspannung, die sich in der Stadt in jedem aufbaut, der es sich nicht aussuchen kann. Aggression, Gewalt. Nichts ist so direkt und angsteinfloessund und so furchtbar, wie das das, aber was will man tun. Aus dem Weg gehen.
Mittags lief ich die Strasse entlang, viele Male, mal hinauf Richtung Norden, Richtung Holloway Road. Aber da gab es nicht so viel zu tun. Oder runter zum Regent’s Canal, um den narrow boats zu zusehen, und um das Wasser zu beobachten.

Oder sogar noch weiter bis zu King’s Cross Station. Wenn die Zeit es zuliess, verbrachte ich sie auf den Bahnsteigen, die heute so ganz anders aussehen damals, um den alten InterCity Maschinen zuzuhoeren. Grosse Dieselmotoren, nie schien man sie auszuschalten, jederzeit bereit, hunderte, tausende Menschen in langen Zuegen Richtung Norden wegzubewegen, aus der Stadt heraus. Die Maschinen grollten und liessen die Bahnsteige vibrieren, wie sie es seit hunderten von Jahre getan haben, frueher vom Dampf angetrieben, dann von Diesel.

Es ging mir damals nicht nur gut. Aber wann geht es einem schon nur gut. Oder wann will man, dass es einem nur gut geht. Aber erst viel spaeter sollte ich begreifen, warum alles war, wie es war. Fuer einige Dinge braucht es eben Zeit.

Manchmal liess ich mich abends nach der Arbeit treiben, tat nichts, oder trank ein paar pints im pub weiter oben in der Nebenstrasse. A proper neighbourhood boozer. Ob das immer noch so ist? Sitzen und die Zeit beobachten, wie sie vergeht. Kein schlechter Vertreib. Sicher nicht. Manchmal gingen wir nach der Arbeit noch weg, freitags eben, grab a bite to eat, a few drinks, Spass haben. Was man so Spass nennt. Dann konnte es spaet werden. Auch gut. Die Zuege fuhren bis spaet in die Nacht.
Das untere Ende der Caledonian Road hatte frueher keinen guten Ruf. King’s Cross. Guns, drugs, sex, alles wurde feilgeboten, dodgy, mate, better be careful. Ein Freund lebte auf der Caledonian Road. Eine kleine Wohnung. Nach dem ersten Einbruch hatte er keine Lust mehr. Nicht fuer lange, nicht fuer immer wollte er dort bleiben. Und es sollte genau so eintreffen. Aber King’s Cross hat sich veraendert, nicht nur der Bahnhof, sondern der Teil der Stadt. Geld kam an und wurde in die Gebaeude und in das Land gesteckt. Um dann mehr davon wieder rausszuholen. Das alte Spiel. Sobald Geld im Spiel ist, veraendert sich alles, zum guten? Wer weiss. Aber eines ist sicher, in King’s Cross sind die dealers verschwunden. Besser so. Auch wenn es doch nur irgendwo anders weiter geht. Sie loesen sich nicht im Nichts auf.
Auf der Caledonian Road spielte sich fuer viele das Leben auf der Strasse ab. Und tut es immer noch. Kids liefen rum, Nachbarn traffen sich und reden, die Haendler boten ihre Ware in Auslagen an. Menschen verliessen ihre Hauser, Autos parkten. Geraeusche. Bewegung. Leben. Nicht wie in den Ghettos der Reichen, wo das Leben, wenn es ueberhaupt existiert, nur hinter verschlossenen Tueren gelebt wird. Und weil auf der Caledonian Road Menschen wohnen, die nicht nur in der Statistik der councils unter “British” laufen, geht es entsprechend zu. Angenehme Mischung. Gut so. London.

Ich bin lange nicht mehr die Caledonian Road entlang gegangen. Ich hatte die Strasse hinter mir gelassen. Sie hat mir viel bedeutet, sie ist ein Teil von mir. Kein unbedingt leichter Teil. Aber auch kein schlechter Teil. Heute schaue ich zurueck, habe sie akzeptiert. Vielleicht kenne ich sie doch nicht mehr. Aber ich habe sie mal gekannt.
The Caledonian Road.